Das Filmen von Sequenzen: Filmen wie das Auge sieht

 

In diesem Kapitel geht es um den wohl wichtigsten Aspekt der Filmsprache. Genauer geht es darum, wie man mit der Kamera eine Geschichte erzählt.

Das Objektiv der Kamera stellt beim Filmen quasi das "Auge" des Zuschauers dar. Folglich sollte sich die Kameraarbeit sehr stark daran orientieren, wie das menschliche Auge seine Umgebung erfasst und wahrnimmt:

  • Das menschliche Auge kann nicht zoomen. Will ein Mensch etwas aus der Nähe betrachten, muss er näher herangehen. Im Film geschieht dies durch eine Veränderung der Einstellungsgröße(n) in Richtung Nah- und Großaufnahme (close-up). Das "Herantreten" kann in Form einer Kamerafahrt geschehen, alternativ durch Heranzoomen (zoom-in), d.h. durch eine simulierte Kamerafahrt.
  • Beim Betrachten von Vorgängen oder von Gegenständen "springt" das menschliche Auge im Regelfall. Filmisch gesprochen: Das Auge schwenkt nicht, sondern es macht "harte Schnitte".
  • Das Auge kann (gelegentlich!) auch "schwenken", beispielsweise wenn es eine Bewegung verfolgt oder wenn es einen Vorgang bzw. Gegenstand gezielt mustert und/oder (ab)sucht.

 

Vom Überblick zu den Details

Wer eine Szene betrachtet, verschafft sich normalerweise zunächst einen Gesamtüberblick ("Totale"). Danach richtet er seine Aufmerksamkeit – natürlich abhängig von der zur Verfügung stehenden Zeit – mehr oder weniger intensiv auf unterschiedlich große Teilausschnitte des Ganzen ("Halbtotale", "Halbnah", "Nah", "Groß", "Detail" o.ä.). Der Gesamteindruck eines Vorganges oder eines Gegenstandes entsteht somit aus einer mehr oder weniger schnell absolvierten Folge von Einzel-Blicken ("Einstellungen").

Der Betrachter einer Szene "zerlegt" diese also stets in mehrere, für ihn interessante oder wesentliche Teilstücke, indem sein Auge von einem zum anderen "Blick-Punkt" springt. Entsprechend "zerlegt" der Kameramann einen Handlungsablauf, eine Szene oder auch einen Gegenstand stets in mehrere unterschiedliche Einstellungen. Auf diese Weise lenkt er die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf jene Bildinhalte, die seiner Meinung nach zum Verständnis des Ganzen wichtig sind. Dabei führt er den Zuschauer

  • über immer "closer" werdende Einstellungen an das Ereignis bzw. an den Gegenstand heran sowie
  • in umgekehrter Reihenfolge auch wieder weg, ggf. zurück zum Überblick.

Eine solche Bildfolge nennt man in der Filmsprache eine Sequenz. Bei den Aufnahmen  sieht sich der Kameramann allerdings mit einem Problem konfrontiert: Er muss so filmen, dass später auf der (in der Regel) zweidimensionalen Leinwand eine möglichst überzeugende Illusion der in Wirklichkeit dreidimensionalen Welt erzeugt wird.

 

Die dritte Dimension im eigentlich zweidimensionalen Film

Abgesehen vom 3-D-Film ist das Filmbild von Natur aus zweidimensional ("Höhe", "Breite"). Bei der Kameraarbeit gibt es aber gestalterische Möglichkeiten, trotzdem im Kopf des Zuschauers eine plastische Vorstellung zu erzeugen und für den Zuschauer die fehlende dritte Dimension ("Tiefe") erlebbar zu machen. Dies geschieht hauptsächlich

  • durch eine bewusste Bildgestaltung (z.B. Berücksichtigung der drei Bildebenen "Vordergrund - Mitte - Hintergrund", Betonung von Diagonalen),
  • durch die Nutzung der Schärfentiefe als Gestaltungsmittel (z.B. gewollte Unschärfe im Vordergrund und/oder im Hintergrund; Schärfeverlagerungen),
  • durch Änderung des Betrachtungswinkels. Dafür gibt es zwei Möglichkeiten: Wechsel des Kamerastandortes (z.B. schräg von vorn, schräg von hinten, seitlich von rechts oder von links, Schuss / Gegenschuss o.ä.) und ein Wechsel der Kameraperspektive (z.B. Augenhöhe, Bauchhöhe, Vogelperspektive, Froschperspektive).

Tipp: Beim Wechseln des Kamerastandortes sollte der Kameramann die 30°-Regel beachten, d.h. den Blickwinkel der Kamera um mindestens 30° (ver)ändern.

 

"In Sequenzen" sehen und filmen

Das bedeutet: Ein Vorgang oder ein Gegenstand wird beim Filmen in mehrere, unterschiedliche Einstellungsgrößen "zerlegt". Beim Aufnehmen dieser Einstellungen wird jeweils der Kamerastandort und/oder die Kameraperspektive verändert. Selbstverständlich können weitere Gestaltungstechniken wie Bildaufbau, Schärfenverlagerungen, Schwenks, Zooms bzw. Kamerafahrten usw. zusätzlich genutzt werden.

Eine Sequenz kann also von einem Geschehen (oft von der Handlung einer Person) angefertigt werden, ebenso aber auch von einem Objekt (Gebäude, Denkmal, Maschine). Immer handelt es sich um eine Abfolge von mehreren Einstellungen, die inhaltlich miteinander in Bezug stehen und die in eine bestimmte Raum- oder Zeit-Beständigkeit eingebettet sind (Kontinuitäts-Prinzip). Der Kameramann muss also schon bei den Aufnahmen eine konkrete Vorstellung haben, wie eine Sequenz später im fertigen Film aussehen soll. Entsprechend filmt er die dazu notwendigen Einstellungen. Die zeitliche Reihenfolge der Aufnahmen ist egal, denn die endgültige Sequenz entsteht erst beim Schnitt.

Das sollte ein Filmer nie vergessen: Was man nicht gefilmt hat, kann man später auch nicht schneiden!

 

Praxis-Tipp: Die "5-Shot-Regel"

Schon vor ein paar Jahrzehnten machte der amerikanische Produzent und Video-Journalist Michael Rosenblum in Europa die so genannte "5-Shot-Regel" populär. Sie ist in erster Linie gedacht für Reportagen und Dokumentationen und bezieht sich ausdrücklich auf den häufigsten Anwendungsfall einer Sequenz, auf das Filmen einer handelnden Person. Die "5-Shot-Regel" empfiehlt, für eine Sequenz (mindestens) fünf "Schüsse" anzufertigen, und orientiert sich dabei an den bekannten journalistischen W-Fragen:

1. WAS geschieht? --> Detail: Hände
2. WER macht das? --> Nah/Groß: Gesicht
3. WIE geschieht das? --> ½-Nah: Über die Schulter
4. WO spielt sich das ab? --> Totale/½-Totale: Überblick
5. WOW! Überraschendes --> Creative shot" (bzgl. Inhalt oder Kameraposition)

Man sollte diese "5 W" als eine Art Checkliste betrachten. Wer sich beim Filmen eines Vorgangs daran hält, mindestens diese fünf "Schüsse" zu anzugfertigen, wird immmer das Material zum Schneiden einer guten Sequenz haben.

 

Nachfolgend zwei Video-Beispiele von Sequenzen, die (1) exakt nach der "5-Shot-Regel" bzw. (2) in Anlehnung an diese aufgenommen wurden:

Beispiel (1): Zunächst werden - im Zeitraffer - die fünf "Schüsse" gezeigt: Where? Who? What? Over-Shoulder (= How?) und der Beauty-Shot (= Wow-Shot). Anschließen wird an zwei Schnittbeispielen demonstriert, dass man aus diesem Rohmaterial unterschiedliche Sequenzen montieren kann.

 

 

Beispiel (2): Die kleine Filmsequenz besteht aus insgesamt sieben Einstellungen (Shots), die offensichtlich in Anlehnung an die "5-Shot-Regel" aufgenommen wurden.